2019 berichtete die Wohlfahrt Intern über eine Studie aus dem Herbst 2018 zur Barrierefreiheit der Internetseiten der 100 größten Unternehmen der Sozialwirtschaft. Die Ergebnisse der damaligen Studie waren ernüchternd. Nur sechs von 100 Unternehmen schenkten der Barrierefreiheit ihrer Internetseiten erkennbare Aufmerksamkeit.
Im März 2022 führte das Inclusion Technology Lab in Zusammenarbeit mit der Syndeo GmbH nun vier Jahre später erneut eine Studie durch, um zu überprüfen, was sich in der Zwischenzeit verändert hat. Doch es sei bereits vorweggesagt, wer angesichts eines anhaltenden Diskurses über die Digitalisierung und ihrer Bedeutung für die Wohlfahrt einen wirklichen Entwicklungssprung erwartet, wird enttäuscht.
Um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zur Erhebung von 2018 zu erzielen, wurde die diesjährige Studie in exakt der gleichen Stichprobe mit den gleichen Kriterien erhoben, wie sie 2018 gemessen wurden. Damals wie heute kam ein Lackmustest zum Einsatz, der gemeinsam mit dem Pixl Labor in Düsseldorf entwickelt wurde und der Barrierefreiheit in zehn einfache Kriterien übersetzt. Die Kriterien für Barrierefreiheit sind:
Für jedes erfüllte Kriterium gibt es einen Punkt. Theoretisch könnte jedes Unternehmen zehn Punkte erreichen. Zusammen könnten die 100 Unternehmen der Stichprobe in Summe maximal 1000 Punkte erreichen. 2018 lag der Summenwert der Stichprobe bei 509 Punkten. 2022 hat sich dieser Wert auf 557 gesteigert. Der höchste Wert lag 2018 bei 7,5 Punkten. Dieses Jahr wurden maximal acht Punkte erreicht. Kurzum, die Ergebnisse zeigen innerhalb der gesamten Stichprobe eine leichte Bewegung in die richtige Richtung. Aber diese Bewegung scheint nur in Ausnahmefällen einer grundlegenden barrierefreien Erneuerung der Internetseiten geschuldet. Im Kern spiegelt sie den technischen Fortschritt wider, der beispielsweise dazu führt, dass heute Videos, die über YouTube verlinkt werden, automatisch mit Untertiteln versehen sind.
Im Vergleich zu 2018 sind heute viele Seiten aufgeräumter und übersichtlicher gestaltet. Hier kann man eine Entwicklung beobachten, die zu vermehrt angebotsorientierten Internetseiten führt. Besuchende stoßen seltener im ersten Schritt auf eine Selbstdarstellung des Unternehmens, sondern immer öfters auf die konkreten Angebote, die ein Unternehmen anbietet. Demnach wird an der Gestaltung der Internetseiten gearbeitet. Das Thema der Barrierefreiheit wird jedoch nicht hinreichend berücksichtigt. Und dies trotz der Tatsache, dass digitale Barrierefreiheit bei großen Förderträgern, wie etwa der Aktion Mensch, genauso förderfähig ist, wie bauliche Barrierefreiheit. An den verfügbaren wirtschaftlichen Mitteln kann es folglich nicht liegen.
Im persönlichen Gespräch signalisieren Träger oft eine übervolle Agenda als Grund für den digitalen Missstand. Und in der Tat scheint zwischen Corona-Krise, BTHG Einführung und Fachkräftemangel kaum Raum für außergewöhnliche Projekte. Doch digitale Barrierefreiheit darf 2022 nichts Außergewöhnliches mehr sein. Seit 2006 gilt die UN-Behindertenrechtskonvention, seit 2016 gibt es eine Vorgabe der EU zur digitalen Barrierefreiheit der Internetseiten der öffentlichen Hand und seit 2018 eine deutsche Übersetzung dieses Rechtsanspruchs in Gesetze und Verordnungen. Diese greifen zunächst nur für die öffentliche Hand, aber aus ihnen leitet sich zumindest ein moralischer Anspruch gegenüber der Wohlfahrt ab, sodass die digitale Barrierefreiheit nicht ignoriert werden darf. Wer, wenn nicht die Unternehmen der Wohlfahrt, sollten im Umgang mit Menschen mit Behinderungen vorbildlich sein?
Und es gibt sie auch, die Vorbilder. Besonders nennenswert ist diesmal die Seite der Diakonie Wittekindshof (https://www.wittekindshof.de/). Diese lag 2018 im Vergleich der Barrierefreiheit mit 3,5 Punkten auf einem der hinteren Ränge. Nach einer umfassenden Neugestaltung der Seite im November 2021 belegt sie diesmal mit acht Punkten den ersten Platz. Zugleich ist die Seite inhaltlich gut strukturiert und sehr übersichtlich und somit für Besuchende, ob mit oder ohne Behinderung, eine Freude. Das Beispiel zeigt, es ist möglich, man muss es nur wollen.
Der Autor
Dr. Raimund Schmolze-Krahn ist Vorstand des Inclusion Technology Lab und Geschäftsführer der Syndeo GmbH