Kinder und Jugendliche vor Missbrauch bewahren

Marktfeldleiterin Neumann © contec GmbH
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe müssen seit Kurzem Schutzkonzepte gegen Gewalt vorhalten. Marktfeldleiterin Birgitta Neumann von der contec GmbH zeigt, was Träger bei deren Erstellung beachten müssen.
In den vergangenen Jahren ist der Gewaltschutz in der Kinder- und Jugendhilfe immer mehr in den Fokus geraten, unter anderem durch das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen in Institutionen und Pflegefamilien. Obwohl der Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche bereits seit 2005 gesetzlich im SGB VIII der Kinder- und Jugendhilfe verankert ist, hat das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Jahr 2021 weitreichende Neuerungen hervorgebracht. Mit dem KJSG sind alle betriebserlaubnispflichtigen Einrichtungen nun auch verbindlich dazu verpflichtet, Schutzkonzepte vorzuhalten. Bleibt dies aus, droht im schlimmsten Fall ein Entzug der Betriebserlaubnis.
Grundlagen des institutionellen Gewaltschutzes
Der Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche erstreckt sich auf verschiedene institutionelle Ebenen, zum Beispiel persönliche Daten, Schutz der persönlichen Autonomie, Schutz vor körperlicher Unversehrtheit. Zu unterscheiden gilt im institutionellen Kontext die Kindeswohlgefährdung durch Mitarbeitende und durch andere Kinder oder Jugendliche. Verstöße reichen von Grenzverletzungen über Übergriffe bis hin zu sexuellem Missbrauch und anderen strafrechtlich relevanten Formen der Gewalt. Doch was muss ein Gewaltschutzkonzept für die Jugendhilfe oder die Kita alles umfassen und wie stellen Sie sicher, dass es nicht nur auf dem Papier steht und vom Landesjugendamt abgenommen, sondern in der Einrichtung auch gelebt wird?
Anforderungen an ein Gewaltschutzkonzept
Wie genau das Gewaltschutzkonzept auszusehen und wie umfangreich es zu sein hat, kann pauschal nicht beantwortet werden. Unsere Erfahrung zeigt, dass manch ein Landesjugendamt sich zufriedengibt, wenn es im pädagogischen Konzept einen Absatz zum Gewaltschutz gibt. Andere hingegen fordern ein eigenes, detailliert ausgearbeitetes Konzept zum Gewaltschutz. Grundsätzlich raten wir, lieber etwas genauer zu sein. Drei Säulen sind für einen nachhaltigen Gewaltschutz in der Kinder- und Jugendhilfe essenziell:
1. Information
2. Prävention
3. Intervention
Über all dem steht allerdings die Grundvoraussetzung, dass das Gewaltschutzkonzept auch im Alltag der Jugendhilfeeinrichtung oder Kita gelebt wird, dass alle Mitarbeitenden sich zur Einhaltung verpflichten und sich mit den Werten identifizieren. Um dies sicherzustellen, sollte bereits die Entwicklung des Gewaltschutzkonzeptes partizipativ erfolgen. Ein zeitgemäßes pädagogisches Konzept enthält bereits als präventive Maßnahme systematisierte Beteiligungsformen, Beschwerdeverfahren und Prozesse, die den Kindern und Jugendlichen ihre Rechte transparent machen. Es empfiehlt sich dringend, vor der Erarbeitung von Präventionsmaßnahmen und Interventionen eine IST-Analyse durchzuführen. Darauf aufbauend kann ein Konzept entstehen, das den bestmöglichen Schutz der Leistungsberechtigten gewährleistet.
Individuelle Risikoanalyse
Die individuelle Risikoanalyse umfasst unterschiedliche Ebenen. Zu ihnen gehören beispielsweise strukturelle, personelle und räumliche Risikofaktoren. Die strukturellen Risikofaktoren nehmen vor allem bereits vorhandene Prozesse zur Prävention in den Blick. Gibt es bereits eine Selbstverpflichtung, die Mitarbeitende unterzeichnen? Welche alltäglichen Situationen ergeben sich im Angebot, die einen Machtmissbrauch oder übergriffige Verhaltensweisen begünstigen könnten? Personelle Risikofaktoren sind ein Thema, das viel Fingerspitzengefühl verlangt. Im Zentrum stehen Fragen nach der personellen Ausstattung der Einrichtung und dem Umgang mit Ausfällen und Unterbesetzung. Außerdem sollten vorhandene Schulungsmöglichkeiten und Formate des kollegialen Austauschs beachtet werden. Überforderung bei Mitarbeitenden kann, muss aber natürlich nicht zu grenzverletzendem oder auch gewalttätigem Verhalten führen. Bei räumlichen Risikofaktoren geht es unter anderem darum, wie die Intimsphäre, zum Beispiel in Sanitärbereichen, gewährleistet wird. Es geht auch darum, ob und wenn ja, welche Räume es gibt, die auch ohne eine kontinuierliche Aufsicht genutzt werden.
Dreiklang für ein angstfreies Miteinander
Der präventive Teil des Gewaltschutzkonzeptes ist Grundlage für ein angstfreies Miteinander in einer Einrichtung. Wichtig hierbei ist vor allem die Aufklärung der Kinder und Jugendlichen über ihr Recht auf Achtung der persönlichen Grenzen. Auch die Eltern sollten miteinbezogen und in regelmäßigen Formaten über die Bedeutung des Themas und vor allem die präventiven Maßnahmen, wie die Stärkung der Rechte der Kinder, informiert werden. Ein Verhaltenskodex, eine Selbstverpflichtung aller Mitarbeitenden und in einem weiteren Schritt eine partizipativ erarbeitete Verhaltensampel können gute Grundlagen für den respektvollen Umgang darstellen und erleichtern es Kolleginnen und Kollegen sowie den Betroffenen, schneller Grenzverletzungen und übergriffiges Verhalten zu erkennen. Darüber hinaus sollten regelmäßige Schulungen für die Mitarbeitenden mit Basiswissen über sexualisierte Gewalt stattfinden. Das dient nicht nur der Prävention innerhalb der Institution, sondern auch der Sensibilisierung für Anzeichen sexualisierter Gewalt in der Herkunftsfamilie oder dem Zuhause.
Interventionen im Gewaltschutzkonzept festzulegen ist bei aller Präventionsarbeit unerlässlich. Hier geht es vor allem darum, Prozesse und Verhaltensweisen zu definieren, für den Fall, dass ein Verdacht oder ein tatsächlicher Missbrauch entdeckt oder gemeldet wird. Im Idealfall erhalten Fachkräfte eine Checkliste mit Verhaltenstipps für verschiedene Szenarien: Wenn sie den Verdacht haben, dass eine Kollegin oder ein Kollege missbräuchliches Verhalten an den Tag legt, wenn sie Kindeswohlgefährdung in der (Herkunfts-)Familie vermuten oder wenn ein Vorfall von außen gemeldet wurde. Kommunikations- und Meldeketten müssen unbedingt festgelegt und eingehalten werden. Ob ein Träger diese Meldeketten einhält, ist im Übrigen ein Kriterium zur Beurteilung der „Zuverlässigkeit“ des Trägers, die inzwischen im § 45 SGB VIII Abs. 2 verankert ist.
Gewaltschutz als Führungsaufgabe
Gewaltschutz ist wichtig, um den Betrieb führen zu dürfen. Er ist aber auch eine organisationale Herausforderung. Eine angstfreie Umgebung für alle – Mitarbeitende wie Kinder und Jugendliche – zu schaffen, ist Führungsaufgabe. Bei Gewaltschutz in der Kinder- und Jugendhilfe denkt man häufig zunächst an Missbrauch von Mitarbeitenden gegenüber den Schutzbefohlenen. Ein gutes Schutzkonzept nimmt aber mehr als dieses Verhältnis ins Visier, nämlich das Verhältnis von Mitarbeitenden untereinander und von Führungskräften gegenüber ihren unterstellten Mitarbeitenden. Auch hier kann es zu grenzüberschreitendem Verhalten kommen. Grenzwahrende Regeln in der Kommunikation und eine gesichtswahrende Fehlerkultur sind Bestandteile einer Organisationskultur, in der sich alle geschützt fühlen. Wir empfehlen deshalb, das Thema Gewaltschutz in der Jugendhilfe und der Kita organisational zu verankern, zum Kultur- und Führungsthema zu machen.
Die Autorin
Birgitta Neumann ist Marktfeldleiterin für Unternehmen der Kinder- und Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe bei der contec GmbH.
b.neumann(at)contec.de
Die contec GmbH unterstützt die Veröffentlichung und Verbreitung dieses Beitrags.